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Friedrich Copei's "Der fruchtbare Moment der Erkenntnis"

Wer kennt es nicht, das Gefühl, etwas schlagartig begriffen zu haben; die plötzliche Entladung eines Glücksgefühls, wenn einem "ein Licht aufgeht", man von einer einfach genialen Idee überkommen wird, ohne zu wissen, wo sie eigentlich ihren Ursprung findet. Mit diesem "fruchtbaren Moment der Erkenntnis" beschäftigte sich in den 30er Jahren des 20ten Jahrhunderts der damals 28jährige Doktorand und ehemalige Volksschullehrer Friedrich Copei, der mit der Beobachtung dieser Erscheinung es nicht nur fertigbrachte, der Erkenntnisforschung einen der vielen Grundsteine zu legen, sondern auch der Pädagogik zu einer neuen Perspektive verhalf. Leider war auch Copei seiner Zeit zu weit voraus; so ist sein Werk bis heute noch nahezu unbekannt.

Vor allem, da man damals nach der Herbart'schen Pädagogik in weiten Kreisen annahm, der Lehrer müsse lediglich seinen Schülern Wissen in kleinen Splittern servieren und für sie zu einem Ganzen zusammenfügen, so daß alle Beteiligten einen abschließenden Blick auf das vom Lehrer konstruierte Assoziationsgeflecht werfen könnten, um es bewundernd in die eigene Wissensbasis aufnehmen zu können. Bewundernswert war jedoch der außerordentliche Mißerfolg von Herbart's Philosophie, zumal Schüler nicht einmal fragen durften.

Friedrich Copei jedoch präsentiert die Erkenntnisfindung und ihren Auslöser als dynamischen Vorgang, welcher der Konversation und auch des Irrtums bedarf, anhand von Überlieferungen berühmter Genies, von Sokrates bis Gauß, und rämt bei dieser Gelegenheit mit Vorurteilen über diese Menschen auf; nämlich der Behauptung, ihnen wären ihre Erkenntnisse ohne beträchtlichen Arbeitsaufwand "zugeflogen". Um das Ganze abzurunden findet Copei die Parallelen zwischen geistigen Höchstleistungen und "dem Erfassen eines schlichten Handgriffes, der zu dem Gefüge Kultur in Beziehung steht", und sagt, worauf es beim lernen, in den Wissenschaften, den Künsten und im Religiösen ankommt. Beeindruckenderweise ist Copei's Werk dem Leser durch Introspektion zugänglich, und entsprechend spannend zu lesen.

Das soll allerdings nicht bedeuten, daß Copei's Werk sich selbst zu rechtfertigen versucht; dem Autor ist bewusst, daß die wissenschaftlichen Mittel seiner Zeit und die damlaigen Forschungen auf diesem Gebiet diesem Ziel nicht gerecht wurden. So verzichtet Copei folgerichtig auf abschließende Dogmen, und versteht seine Ausführungen rein als Wegweiser für spätere Forschungen, zu denen er leider nicht mehr kam. Copei wurde 1945 im Alter von 42 Jahren zum Kriegsdienst einberufen, und starb wenig später in Crossen an der Oder.

Anstoß zu Copei's Erkenntnistheorie

Anstoß und zugleich Vorraussetzung für den Weg zu Erkenntnis ist die Fragestellung zu einer Sache, die aus unvermitteltem Bruch mit Gewohntem hervorgeht, wie Copei einleitend anhand der sokratischen Mäeutik (Geburtshilfe) darstellt. So holt Sokrates in einer Szene vom "Menon" aus einem mathematisch ungeschulten Sklaven den Lehrsatz heraus, daß die Diagonale eines gegebenen Quadrates gleich ist der Seitenlänge eines doppelt so großen Quadrates, indem er ihn durch ständiges Fragen und Bitten um Stellungnahme dazu bringt, Behauptungen aufzustellen, zum Beispiel, daß ein Quadrat doppelter Größe auch eine doppelte Seitenlänge besitzen müsse. Daß diese Behauptung falsch ist, lässt Sokrates den Sklaven jedoch selbst erkennen, so daß dieser seinen Irrtum "einsehen" muß. Dies lässt den Sklaven zweifeln, und er beginnt, sich selbst Fragen über die Gesetze der Sache, ohne die Oberflächlichkeit des Gewohnten zu stellen, und gelangt nach mehreren Fehlern und heftigen Selbstzweifeln zu erwähnter Erkenntnis.

Die Erkenntnis im Kleinen

Dieses Ausbrechen aus Gewohntem, das, was mensch als "anstößig" empfindet, spiegelt sich auch in den anderen Bereichen des Seelenlebens wider, die Copei reflektiert. Ein Beispiel stellt eine Unterhaltung dar, in der wir unserem Gegenüber zuerst mühelos folgen, seinen Gedanken sogar vorausgreifen können, bis wir an einen Punkt geraten, der sich uns nicht erschließt, und den wir uns durch eine Frage, oder Wiederholung des gesagten, zugänglich machen. Dieser Punkt, die dunkle Vorstellung eines Gegenstandes, der sich nicht auf Anhieb in unser Wissen eingliedern lässt, erzeugt eine emotionale Spannung, die uns dazu zwingt, durch (Selbst-)Fragen den Gegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und zu analysieren, bis wir aufgeben wollen, und sich uns aus der Ablenkung heraus der Sachverhalt in einem Schlag offenbart. Diese "kleine" Erkenntnis erfolgt zwar, wie jede andere, in allen Einzelheiten, aber nur kurz. Dafür spricht, daß wir das Neue erst auf Richtigkeit überprüfen, es uns begründend vergegenwärtigen müssen, oder sonst schlicht vergessen. Wir müssen die Erkenntnis erst in bereits bekannte Zusammenhänge eingliedern.

Das erwähnte Vorausgreifen von Gedanken ist nach Copei eine der wichtigsten Vorraussetzungen für echtes Verständnis, zeugt es doch von gazner Verinnerlichung eines Themas, und verhindert unkritisches und statisches Aufnehmen von Informationen, ohne Beachtung von Kausalitäten, deren Wissen erst Wissen nutzbar macht. Erkenntnis setzt voraus, daß alle nötigen Bruchstücke dazu im Gedächtnis verfügbar sind. Dieses vorausgreifen findet auch seinen Ausdruck in der Suche nach dem Kern einer unverstandenen Sache. Wir ahnen die Lösung der entstandenen Spannung, stellen uns eine entsprechende Frage und überprüfen sie. Bleibt die erhoffte Lösung aus, erkennen wir andere Sachverhalte, die sich unserer Lösung in den Weg stellen, und ordnen das Material, aufgrund der neuen Einsicht, neu; können unsere Fragen feiner ausformulieren. Der Irrtum ist also ein wichtiger Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Er lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf Dinge, die ihm beim intuitiven "herantasten" an die Sache vorher nicht aufgefallen sind, schafft neue Beziehungen. Auch organisierten Irrtum gibt es im menschlichen Denken, bekannt als "Hume'sches Phänomen". So fällt einem u.U. immer eine Negation, die Umkehrung des Sachverhaltes unseres Gesprächspartners ein, die zur Einsicht eines Irrtums, und der damit verbundenen Vorteile im verstehen führt. Wer kennt jedoch nicht die Menschen, die scheinbar desinteressiert Vorgetragenes einfach ablehnen? Schlimmer noch diejenigen, die es dabei belassen? "Zucht", schlicht FLeiß in der Prüfung der Einsichten ist demnach eine der wichtigsten Grundeigentschaften, die mensch zur Nutzung seiner Geisteskraft mitbringen muß.

Diese Struktur spiegelt sich in allen sinnempfangenden und sinnschaffenden Akten der Erkenntnisfindung wider; wenn auch in variierender Intensität.

Die "geniale" Erkenntnis

Fleiß ist vor allem dasm was die genialen Denker der Menschheit besaßen, die sich teils monatelang mit einer Frage beschäftigen konnten, sich entsprechend quälten, bis, in einem Moment der Entspannung, die Antwort erschien. Je schwieriger die Vorarbeit zu einer Erkenntnis, je größer die Spannung, die eine Lösung erwartet, desto intensiver fällt der fruchtbare Moment aus. Goethe bezeichnet ihn, das "Apercu", als "eine Innere am Äußeren sich entwickelnde Offenbarung", die dem Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen lässt, noch bestimmter, es ist eine Synthese aus Welt und Geist…"

Aber nicht nur die Empfindung der Erkenntnis wird davon beeinflusst, auch die entstandene "Lücke" der Herleitung wird mit zunehmender Komplexität größer. So ist den Notizen von Gauß' zahlentheoretischer Entdeckung folgendes zu entnehmen: "Aber alles brüten, alles suchen ist umsonst gewesen, endlich, vor ein paar Tagen ist es gelungen. Aber nicht meinem mühsamen Suchen, sondern bloß durch eine Gnade Gottes, möchte ich sagen. Wie der Blitz einschlägt, hat sich das Rätsel gelöst. Ich selbst wäre nicht imstande, den leitenden Faden zwischen dem, was ich vorher wusste, dem, womit ich meine letzten Versuche gemacht hatte, und dem, wodurch es gelang, nachzuweisen."

Erkenntnis erfordert aber nicht nur harte, geistige Arbeit, sondern ebenso Entspannung und Ablenkung, während derer der Geist die Bruchstücke und Teilfragen zu ordnen scheint. So kommen einem z.B. die besten Ideen bei einem Spaziergang, beim Umgraben des Gartens oder unter der Dusche, oder es geschieht, daß einem schlichtweg "der Blitz beim Scheissen trifft".

Die Erkenntnis des Wortes

Ein sehr schönes Beispiel ist auch die Erkenntnis in der Sprache des Menschen. Wie oft benutzen wir Worte, deren Sinn wir nicht empfinden, sondern die wir genauso achtlos benutzen, wie wir im tristen Alltag, durch fehlende geistige Herausforderung, denken. Kommen wir allerdings in Verlegenheit, einen Eindruck, dem wir besondere Beachtung schenken, zu beschreiben, so geschieht es oft, daß wir einfach das passende Wort nicht finden. Damit ist die Fragehaltung gegeben, und wir finden nach einigem suchen häufig einen Ausdruck, den wir sonst sehr oft benutzen, aber dessen eigentlicher Sinn durch ständigen Gebrauch abgenutzt wurde, und der sich uns durch die suche und die damit verbundene Ordnung der Gedanken neu erschließt.

Die Erkenntnis in den Künsten

Selbst in den Künsten findet sich die Struktur der beschriebenen Vorgänge, wobei wohl außer einem entstandenen Konzept eines Werkes im fruchtbaren Moment der Aufwand für die Herleitung, die Erschaffung eines Werkes, weitaus mehr Zeit in Anspruch zu nehmen scheint als in anderen Gebieten. Allerdings verschafft erst dieses Konzept dem Kunstwerk seine Kongruenz, die durch nachfolgende Ideen ausgefeilter wird. Dieses einbringen neuer Ideen erweist sich als schwierig, da diese in das Konzept hineinpassen müssen. So verändert sich das Konzept mit ihnen, wenn sich beides nicht im Weg steht. Beides gleicht sich an.

Erkenntnis ist allerdings auch bei der Betrachtung von Kunst unabdingbar. Schon Goethe empfiehlt, z.B. ein Bild nur sehr kurz zu betrachten und die Augen wieder zu schließen, um den Eindrücken ein Eigenleben zu gewähren, und so eine anschließende lebendigere Betrachtung zu ermöglichen. Die Erkenntnis erfolgt meist aus den Einzelheiten eines Werkes, die sich durch selbigere wie ein roter Faden ziehen und Sinn im erkennenden vermitteln, ihm die Möglichkeit geben, sich das Werk zu verinnerlichen und zu erleben.

Die ethische Erkenntnis

Die religiöse Erkenntnis, oder besser formuliert, die mystische Erfahrung (weil unanhängig im Sinne von Religion, wie wir sie verstehen), stellt wohl die tiefste der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten dar, deren Beschreibung als "empfinden von Unendlichkeit", "das Gefühl eines Überrationalen", "erfasstwerden vom Universum" wohl eher die Reduktion der Realitätstheorie auf das Einmaleins darstellt. Wohl dient dem Glaubenden als Hilfe auf dem Weg zur echten Erkenntnis, der nahezu erschlagenden Auflösung eines Paradoxons für einen Moment, dessen Zeitspanne in Zeit zu messen nicht mehr gerecht wird. Eine Herleitung dieser Erkenntnis mag mensch in jeder Religion finden, und sie, nach langer Suche, verstehen.

Die Folgen

Goethe sagte bereits "alles wahre Apercu kommt aus der Folge und bringt Folge". Damit meint er, daß sich die Lösung aus vorhandenem Gedankenmaterial ergibt, herleiten lässt, und selbiges erweitert. Echte Erkenntnis ist flexibel und entwickelt eine Eigendynamik in Form neuer Gedanken, die aus der Neuordnung des Geistes entstehen. So erkannte Goethe nach seinem Geistesblitz der Metamorphosenlehre so viele Strukturen in der Pflanzenwelt, daß er sich vor Arbeit kaum retten konnte; die Ideen kamen ihm ohne Mühe: "…es zwingt sich mir alles auf, ich sinne nicht mehr darüber nach, es kommt mir alles entgegen…". Wer kennt nicht den Genuß, eine mathematische Formel verstanden zu haben und alle entsprechenden Aufgaben des Schulunterrichts ohne weiteres lösen zu können?

Eine der Forderungen Copei's ist, im Schulunterricht mehr Wert auf das Aufwerfen von Fragestellungen zu legen, Irrtüer geradezu herauszufordern, und so dem Schüler eigenständiges Denken aus eigenem Antrieb zu ermöglichen. Nach ueber siebzig Jahren nach dem erscheinen der ersten Auflage Copei's Buch wird Wissen in unseren Lehranstalten immer noch so vermittelt, wie wir es damals üblich war. Sicherlich haben die Schüler mehr Freiheiten, die Prügelstrafe wurde abgeschafft, dafür scheint die Notengebung abgeschafftes zu ersetzen. Der Irrtum hat keine Methode, der Schüler muß sein lernen dem Frontalunterricht anpassen. Unsere Kultur ist zwar eine Kultur der Erkenntnisse, nur sollte auch die Erkenntnissfindung noch kultiviert werden.

Copyright © 1997 Sven Michael Klose